|  | Der angelsächsische Theologe Alkuin (lat.
      "Albinus") erhielt seine Ausbildung in der Kathedralschule von York,
      der damals berühmtesten Bildungsstätte in Europa, in der er später
      selbst Lehrer und ab 766 Schulleiter war. Im Jahre 781 traf er anläßlich
      einer Romreise in Parma den
      Frankenkönig Karl
      den Großen , der ihn aufgrund seiner Gelehrsamkeit als Vermittler der
      angelsächsischen christlich - lateinischen Bildung und als seinen Berater
      in kirchlichen, bald auch in politischen Fragen an seinen Hof
      in Aachen
      berief und zum Leiter seiner Hofschule ernannte. Dort wurde er bald zum
      Mittelpunkt einer Schar von Gelehrten und Dichtern. Er reiste zwar
      mehrmals in seine Heimat zurück, doch verzichtete er auf Bitten Karls
      letztlich auf eine endgültige Heimkehr. Alkuin war selbst kein Mönch, er
      besaß selbst auch nur den Weihegrad eines Diakons, doch Karl der Große
      übergab ihm trotzdem mehrere Klöster, v. a. St. Martin in Tours, zu
      dessen Abt er 796 ernannt wurde. Alkuin bemühte sich sehr um das
      Klosterwesen, v. a. um Disziplin und Ausbildung. Die Klosterschule in
      Tours erlangte unter ihm Weltruf. Auch erwarb er sich in der Sachsen- und
      Avarenmission Verdienste, indem er sich für den Verzicht auf Zwangstaufen
      einsetzte und stattdessen für eine wirkliche Überzeugungsarbeit für den
      christlichen Glauben auf der Basis einer guten Katechese plädierte. Den
      Mittelpunkt von Alkuins Wirken bildete freilich die Hofschule. Er erzog
      dort die führende geistige Schicht des Frankenreiches; zu seinen
      Schülern gehörten nicht nur später bedeutende Persönlichkeiten wie Einhard
      oder Hrabanus
      Maurus, sondern auch der König selbst mit seiner Familie. Den
      Lehrstoff bildeten vor allem die "septem
      artes liberales", denen Alkuin zu neuer Blüte verhalf. Ein
      großer Teil von Alkuins literarischen Werken entstand aus seiner
      didaktischen Arbeit an der Hofschule heraus, wie „De orthographia“
      (Über das genaue und sorgfältige Schreiben als Grundlage aller geistigen
      Arbeit). Eine Reihe von Büchern widmete sich gerade der Förderung der
      "artes", wie die Lehrbücher für Grammatik, Rhetorik und
      Dialektik („De grammatica", der „Dialogus de rhetorica et
      virtutibus“ und „De dialectica"). Außerdem führte er von Tours
      aus einen Briefwechsel mit Karl dem Großen über dessen Fragen in der
      Astronomie. Weiter verfasste er dogmatische Schriften, unter denen v. a.
      Hauptwerk "De fide sanctae et individuae trinitatis" zu nennen
      ist,  liturgische Schriften, Heiligenviten, Bibelkommentare und
      diverse Gedichte mit praktischem Zweck, die als Aufschriften für
      Gebäude, Einleitungsgedichte von Büchern etc. gedacht waren. Nicht
      gering einzuschätzen ist die historische Bedeutung seiner zahlreichen
      Briefe. Alkuins Werke verfolgten keinen Selbstzweck, sondern dienten dem
      Ziel, seinen Zeitgenossen richtiges Handeln und richtiges Sprechen über
      Gott zu vermitteln. Alkuin bemühte ich um ein reines Latein, wobei ihm
      die Kirchenväter als Vorbild galten, darüber hinaus führte sein Streben
      nach einer klaren Schrift zur Ausbildung der karolingischen
      Minuskel, die wohl kaum als das Werk einer Einzelpersönlichkeit zu
      sehen ist, jedoch sicher von Alkuin maßgeblich beeinflusst war. Das
      bedeutendste Zeugnis dafür ist die sog. "Alkuinbibel", die er
      Weihnachten 800 Karl dem Großen in Rom überreichte. Sie ist nicht
      erhalten, doch existieren einige weitere "Alkuinbibeln" mit
      ähnlichen Merkmalen. Die Entwicklung der karolinigschen Minuskel zeugt
      von dem Bestreben um Einheit der Sprache, der Orthographie und der
      Schrift, Neben diesen Werken werden Alkuin in frühen Drucken auch die
      sog. "Propositiones", eine Zusammenstellung unterhaltender
      mathematischer Aufgaben, zugeschrieben. Sie bilden die älteste
      mathematische Aufgabensammlung in lateinischer Sprache, doch haben die
      Probleme als solche Parallelen in ägyptischen, griechischen, chinesischen
      und arabischen Texten. Alkuin starb 804 in Tours. Er hatte – vor allem
      durch seine Bedeutung am Hof – großen Einfluß auf die Nachwelt.
 
 
 
 
 
        
          
            | 
                
                  Text 1
                  (Einleitungsgedicht zu "De rhetorica et
                  virtutibus") 
                  Text 2 (Überblick
                  über die Teile der Rede; das exordium) 
                  Text 3
                  (Einleitungsgedicht zu "De dialectica") 
                  Text 4 (Die Teile
                  der Philosophie)   
               
                
                  
                  
                  | Das folgende Gedicht in elegischen
                    Distichen bildet - hierin sind sich die Gelehrten nicht
                    einig - Anfang oder Ende von Alkuins Rhetoriklehrbuch.
                    Alkuin läßt darin ein Motiv aus Ovids "Ars
                    Amatoria" anklingen: Die Kürze des Lebens und die
                    Notwendigkeit, die verbleibende Zeit zu nutzen. Während
                    Ovid hieraus jedoch die Aufforderung ableitet, die Jugend
                    als Zeit des Liebesgenusses  zu sehen, versteht Alkuin
                    sie als die Zeit des Studiums, der Bildung und der
                    moralischen Formung, um im Alter davon zehren zu können. 
 
  O vos,
                    est aetas, iuvenes, quibus apta legendo,discite: eunt anni more fluentis aquae.
 Atque dies dociles vacuis ne perdite
                    rebus:
 nec redit unda fluens nec redit hora ruens.
 Floreat in studiis virtutum prima iuventus,
 fulgeat ut magno laude honoris senex,
 utere, quisque legas librum, felicibus
                    annis.
 Auctorisque memor dic: "Miserere deus."
 Si nostram, lector, festucam tollere
                    quaeris,
 robora de proprio lumine tolle prius:
 Disce tuas, iuvenis, ut agat facundia
                    causas,
 ut sis defensor, cura salusque tuis.
 Disce precor, iuvenis, motus moresque venustos,
 laudetur toto ut nomen in orbe tuum.
 
 Übersetzungshilfen
  Z. 1: Ordne:
                    "vos, iuvenes, quibus est aetas ..."/ Z. 2:
                    Wörtliche Übertragung von Ovid, Ars amatoria, 3, 62;
                    "discite" stammt freilich von Alkuin (bei Ovid
                    stattdessen "ludite") / Z. 3: docilis,
                    e = gelehrig (hier auch: "zum Lernen geeignet") /
                    Z. 4: Eine Paraphrase der beiden folgenden Verse der
                    "Ars": "Nec quae praeteriit, iterum
                    revocabitur unda, nec quae praeteriit, hora redire
                    potest." Z. 7: quisque: hier wie
                    "quisquis" zu verstehen/ Z. 8 : Diese Worte
                    entsprechen dem griech. "Kyrie eleison", dem
                    Beginn der Messfeier. Alkuin wollte wohl viel mehr ernsthaft
                    als humorvoll damit seine Studenten bitten, für sein
                    Seelenheil die Messe zu feiern /  Z. 9:
                    festuca, - ae = der Splitter / . Z. 10: robur, - oris (auch:
                    der Eichenstamm!), hier im Plural "robora" =
                    synonym zu "trabes" = der Balken. Die Stelle
                    bezieht sich auf Mt 7, 3 bzw. Lk 6, 41: "Quid autem
                    vides festucam in oculo fratris tui et trabem in oculo tuo
                    non vides?" Z. 11: Ordne: "Disce, iuvenis, ut
                    facundia tuas causas agat" / facundia, - ae = die
                    Beredsamkeit / causas agere =  Z. 13: motus = hier:
                    Redefiguren / venustus, a, um = schön, fein 
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 Text 2 (De rhetorica
                    et virtutibus, 320 - 321 A.)Folgender Text stammt aus Alkuins
                    "Dialogus de rhetorica et virtutibus". Diesen
                    Dialog gestaltete er wie ein Gespräch zwischen Karl dem
                    Großen ("Carolus") und ihm selbst, seinem Lehrer
                    Alkuin ("Albinus") in der Form des Protokolls
                    einer Unterrichtsstunde. Dabei dürfte es sich nach
                    Ergebnissen der Wissenschaft nicht nur um eine literarische
                    Fiktion handeln, sondern um eine Art "pädagogischen
                    Kunstgriff", mit dem Alkuin auf plastischere Art zeigen
                    wollte, wie seiner Meinung nach Rhetorik gelehrt werden
                    konnte. Dass er den Herrscher selbst als Schüler auftreten
                    lässt, sollte wohl dem Dargestellten besonderen Nachdruck
                    verleihen. Der Inhalt der "Rhetorik" ist fast
                    ausschließlich antik, allerdings findet Alkuins eigenes
                    Bildungsprogramm in dem Kapitel "De virtutibus"
                    (Über die Tugenden im christlichen Bereich) seinen
                    deutlichen Niederschlag. Die Hauptquellen für die
                    Behandlung der Rhetorik selbst sind Ciceros Werk "De
                    inventione" (woraus Alkuin häufig wörtlich
                    zitiert, ohne dies freilich kenntlich zu machen), einige
                    Stellen aus "De
                    oratore" und die seltene Rhetorik des wohl im 4.
                    Jhdt. lebenden C. Iulius Victor. Inhaltlich kann man das
                    Werk also durchaus als "unselbständig" ansehen,
                    doch lag seine Aufgabe eben darin, die antiken Lehren der
                    Rhetorik in pädagogischer Form den eigenen Zeitgenossen zu
                    vermitteln, bestand die Rhetorik doch offenkundig lediglich
                    in der übertriebenen Anwendung angelernter Phrasen und dem
                    Gebrauch einiger weniger Figuren.
                     Folgender Abschnitt handelt von den Redeteilen;
                    herausgegriffen wurde nach allgemeinen Bemerkungen der
                    unmittelbar darauf folgende Abschnitt über das
                    "exordium".
                     Parallel zur Lektüre lohnt es sich,
                    "De inventione" I, 20,
                    22,
                    23
                    u. 25
                    heranzuziehen, um Alkuins exzerpierendes Vorgehen zu
                    studieren.
                     (Die Lektüre dieses Textes sollte
                    sinnvollerweise nach der Behandlung der Grundlagen der
                    antiken Rhetorik bei Cicero erfolgen.)
 Carolus:
                    ...quid tunc quaerendum est, magister? Albinus:
                    Quid, nisi singulae totius causae partes. Carolus:
                    Quae et quot ille sint, audire desidero. Albinus: Sex
                    (enim) sunt partes, per quas ab oratore ordinanda est
                    oratio. Causae exordium, narratio, confirmatio, partitio, reprehensio,
                    conclusio. Carolus: Quid est exordium? Albinus:
                    Oratio animum auditoris idonee comparans ad reliquam dictionem.
                    Carolus: Quomodo hoc efficitur? Albinus:
                    Primo, ut benivolum, attentum, docilem
                    efficias auditorem. Carolus: Ut mihi videtur, hoc
                    summe curandum est, ut benivolus, attentus,
                    docilis efficiatur auditor. Sed quonam
                    modo hoc (idem) effici possit, velim scire. Albinus:
                    Quattuor ex  locis benevolentia
                    comparatur. A nostra, ab adversariorum, a iudicum persona, a
                    causa. A nostra: si de nostris factis et officiis sine
                    arrogantia dicemus; si crimina illata et aliquas minus
                    honestas suspiciones iniectas diluemus;
                    si, quae incommoda acciderint 
                    aut quae instent difficultates, proferemus; si prece et obsecratione
                    humili et supplici utemur. Ab adversariorum autem persona:
                    si eos aut in odium aut in invidiam aut in contemptum
                    adducemus. In odium adducemus, si quid eorum spurce,
                    superbe, crudeliter, malitiose factum
                    proferetur: in invidiam, si vis eorum, potentia, pecuniae,
                    divitiae, cognatio proferentur atque
                    eorum usus arrogans et intolerabilis, et
                    quod his rebus magis videantur quam causae suae confidere;
                    in contemptum adducentur, si eorum inertia, neglegentia,
                    ignavia, desidiosum studium et
                    luxuriosum otium proferetur. Ab auditorum persona
                    benevolentia captabitur, si res ab iis fortiter, mansuete,
                    sapienter gestae proferentur; nequaquam autem assentationis
                    esse hoc significetur, si de iis, quam
                    honesta existimatio quantaque eorum iudicii et auctoritatis
                    exspectatio sit, ostenditur. A rebus, si nostram causam
                    laudando extollemus, aliorum causam per contemptum
                    deprimemus. Attentos autem faciemus, si demonstrabimus ea,
                    quae dicturi sumus, magna, nova, incredibilia esse, aut ad
                    omnes aut ad eos, qui audient, aut aliquos illustres homines
                    aut ad deos immortales aut ad summam  rei publicae
                    pertinere et si pollicemur nos brevi causam nostram
                    demonstraturos atque exponemus iudicationem
                    aut iudicationes, si plures fuerint. Dociles auditores
                    faciemus, si aperte et breviter summam causae exponemus; hoc
                    est, in quo consistat controversia? Sed qui bene exordiri
                    volet, primo necesse est, ut suae causae genus diligenter
                    agnoscat. Carolus: Quot sunt causarum genera? Albinus:
                    Quinque. Honestum, admirabile, humile,
                    anceps, obscurum.
                    Honestum causae genus est, cui statim, sine oratione nostra,
                    favet auditoris animus. Admirabile, a quo est alienatus
                    animus eorum, qui audituri sunt. Humile, quod neglegitur ab
                    auditore et non magnopere attendendum videtur. Anceps, in
                    quo aut iudicatio dubia est  aut
                    causa et honestatis et turpitudinis particeps, ut
                    benevolentiam pariat et offensionem.
                    Obscurum, in quo aut tardi sunt
                    auditores, aut difficilioribus ad cognoscendum negotiis
                    causa est implicata. Carolus: An semper perspicue
                    exordiri debet orator? Albinus: Aliquando perspicue,
                    aliquando per circuitionem. Perspicua
                    oratio est, cui mox animus auditoris favet, ut in honesto
                    genere causae est. Illa vero, quae per circuitionem
                    fit, clam subit animum auditoris, ut in humili, ancipiti vel
                    obscuro causae genere faciendum est. Sed et hoc sciendum
                    est, quod exordium sententiarum et
                    gravitatis plurimum debet habere et omnino omnia, quae ad
                    dignitatem pertinent, ostentationis vero
                    et concinnitatis minimum, propterea quod
                    ex his suspicio quaedam artificiosae diligentiae nascitur,
                    quae maxime orationi fidem et oratori adimit auctoritatem.Carolus:
                    Ecce habeo, quo modo exordiri debeat causa.
 Übersetzungshilfenreprehensio:
                    entspricht der "refutatio", wie sie  (nach
                    gängigen Rhetoriklehrbüchern) in der didaktischen
                    Literatur meist genannt wird; an sich ist aber
                    "reprehensio" der in der Antike wesentlich
                    häufiger gebrauchte Begriff (wie ihn auch Cicero in
                    "De inv. verwendet) / dictio, - onis = der Vortrag
                    / attentus, a, um = aufmerksam/ docilis,  e (siehe Text
                    1) = belehrbar, gelehrig / quonam = quo-nam / locus = hier
                    am besten: die Seite/ diluere = hier: entkräften /
                    incommodum = Gegenbegriff zu "commodum" (Subst.) /
                    obsecratio, - onis = die Beschwörung / spurcus, a, um =
                    schmutzig / malitiosus, a, um (vgl. FW
                    "maliziös") = übelwollend / cognatio, - onis =
                    die Verwandtschaft, verwandtschaftliche Beziehung / usus
                    = hier (am elegantesten): der Umgang / desidiosus, a, um =
                    träge, müßig, lässig / studium = hier: das Treiben /
                    mansuetus, a, um =  hier: gutherzig / assentatio, -
                    onis = Schmeichelei / significetur: Der Konjunktiv erklärt
                    sich zunächst daraus, dass bei Cicero hier ein
                    "ut" - Satz steht, den Alkuin nicht übernimmt;
                    hier auch ÜS mit Potentialis denkbar. /
                    "significari" = die Bedeutung haben, bedeuten
                    /  iudicatio, - onis = hier: der strittige Punkt /
                    admirabilis, e = hier: auffallend / humilis, e = hier:
                    unbedeutend / anceps, - itis = doppeldeutig / obscurus, a,
                    um = hier: unklar / offensio, - onis = hier: der Anstoß /
                    tardum esse = hier: langsam mitgehen / negotium = hier:
                    synonym zu "res" / perspicuus, a, um =
                    durchsichtig, deutlich, klar / circu(m)itio, - onis = Umweg
                    / sententiarum: abhängig von "plurimum";
                    sententia = hier: der Gedanke/ ostentatio, - onis =
                    (absichtliche) Entfaltung, Vorspiegelung, Prahlerei /
                    concinnitas, - atis = das Gedrechselte, Gesuchte
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 Alkuins vierte Lehrschrift "De
                    dialectica" stellt wiederum einen Dialog zwischen
                    Alkuin und seinem Schüler Karl dem Großen dar. Inhaltlich
                    ordnet Alkuin zunächst die Dialektik
                    als einen Teil der Logik in die Philosophie als Ganzes ein,
                    daraufhin setzt er die Philosophie in Beziehung zum
                    Christentum, d. h. zu Bibel und Theologie. An die nun
                    folgende Untergliederung der Dialektik schließt sich der
                    Hauptteil an, die Darstellung des Systems der Dialektik. Alkuin übernimmt inhaltlich gesehen fast
                    alles wörtlich aus seinen Quellen, den pseudo -
                    augustinischen "Kategorien", dem Werk "De
                    topicis differentiis" des Boethius
                    und den "Ethymologien" des Isidor
                    von Sevilla.  Um dieses nach dem ersten Augenschein
                    lediglich kompilatorische Vorgehen richtig einzuordnen und
                    Alkuins Leistung adäquat zu würdigen, muß der Leser
                    wissen, dass auf dem Kontinent, zumindest im
                    Merowingerreich, nicht einmal die gebildetsten Menschen von
                    der Dialektik mehr als den Namen und ein paar wenige unklare
                    Begriffe kannten. Alkuin in seinem Selbstverständnis als
                    Lehrer und Erzieher strebte danach, eine sorgsame Auswahl
                    aus dem Überlieferten und Bewährten zu treffen und den in
                    seiner Umgebung verwendeten Bildungselementen, die als
                    einzelne nicht mehr verstanden wurden und daher sinnlos
                    geworden waren, eine feste Ordnung zu geben und sie in ein
                    klares System einzubauen. Sein Ziel dabei war, die
                    Zusammenhänge verständlich zu machen, nicht, selbst neue
                    Theorien aufzustellen.  Das Epigramm Text 3 ist der
                    "Dialektik" vorangestellt, Text 4 behandelt die
                    Teile der Philosophie. Hierin fußt Alkuin auf weite
                    Strecken auf den "Ethymologien" Isidors (II, c.
                    22, 23 und 24).      Text 3 Me lege, qui veterum
                    cupias cognoscere sensus,  me quicumque capit, rusticitate
                    caret.  Nolo meus lector segnis
                    sit, nolo superbus,  devoti et humilis
                    pectoris antra colo.  Has rogo divitias sophiae non temnat
                    amator,  navita quas pelagi
                    portat ab orbe suo.      ÜbersetzungshilfenZ. 1:  sensus
                    (Pl.) = hier: Gedanken, Einsichten, Lehren /  Z.
                    2: rusticitas, - atis = (ländliche) Einfachheit, Einfalt;
                    bäurisches Wesen, Plumpheit / Z. 3: lässig, schlaff,
                    träge / Z. 4: devotus  =  (ma.) gottergeben,
                    andächtig, fromm / antrum, - i = Höhle, Grotte / antra
                    (Pl.) = hier am besten:  die Tiefen, das Innerste /
                    colere = hier: verehren, schätzen, gutheißen / Z. 5:
                    temnere = contemnere / Z. 6: navita = nauta / pelagus =
                    mare; wohl eher auf "navita"  zu beziehen, da
                    die Verbindung "navita" + Gen. des Gewässers
                    bereits im antiken Latein belegt ist / orbis = hier (wohl):
                    Reich, Bereich (falls "pelagi" hierauf bezogen:
                    "aus seinem Bereich, nämlich dem Meer)   zurück zum Text
 
   Text 4 (De dialectica,
                    335 - 336 A. )  Carolus:
                    Quia mentionem philosophiae in
                    priore disputationis nostrae sermone fecimus, videtur condignum,
                    magister, ut aliquanto latiore indagatione
                    de ea disputare incipiamus. Albinus: Faciamus sicuti
                    tuae videtur sapientiae condignum. Carolus:
                    Primum omnium dic, unde dicta sit philosophia. Albinus:
                    Ab amore sapientiae. Graeci philo(n)- amorem, sophiam
                    sapientiam vocant. Carolus: Dic eius quoque
                    definitionem. Albinus: Philosophia est naturarum
                    inquisitio, rerum humanarum divinarumque cognitio,
                    quantum homini possibile est aestimare. Est quoque
                    philosophia honestas vitae, studium
                    bene vivendi, meditatio mortis, contemptus saeculi;
                    quod magis convenit Christianis, qui saeculi
                    ambitione calcata
                    disciplinabili similitudine futurae
                    patriae vivunt. Carolus: Ex qua materia constat? Albinus:
                    Scientia et opinione. Carolus: Scientia quid est? Albinus:
                    Scientia est, cum res aliqua certa ratione
                    percipitur, ut eclipsis solis lunaris
                    corporis obiectu est. Carolus: 
                    Opinio quid est? Albinus:  Opinio est, cum
                    incerta res latet et nulla firma ratione
                    diffiniri potest, ut magnitudo coeli vel profunditas
                    terrae. Carolus:  In quot partes dividitur
                    philosophia? Albinus: In tres : Physicam,
                    ethicam, logicam. Carolus:  Haec quoque
                    Latino ore exprome. Albinus:
                    Physica est naturalis, ethica
                    moralis, logica rationalis.
                    Carolus: Officia singularum specierum pande.
                    Albinus: In physica igitur causa
                    quaerendi, in ethica ordo vivendi, in logica ratio
                    intelligendi versatur. Carolus: In quot species
                    physica dividitur? Albinus: In quattuor: arithmeticam,
                    geometriam, musicam, astronomiam. Carolus: In
                    quot partes dividitur ethica?  Albinus: In
                    quattuor quoque: prudentiam,
                    iustitiam, fortitudinem, temperantiam. Carolus:
                    Logica in quot species dividitur? Albinus: In duas,
                    in dialecticam et rhetoricam. In his quippe generibus tribus
                    philosophiae etiam eloquia divina
                    consistunt. Carolus: Quomodo? Albinus: Nam aut
                    de natura disputare solent , ut in Genesi
                    et in Ecclesiaste; aut de moribus, ut
                    in Proverbiis et in omnibus sparsim
                    libris; aut de logica, pro qua nostri theologicam
                    sibi vindicant ut in Canticis
                    Canticorum et sancto Evangelio. Carolus:  Theologica
                    quid est? Albinus: Theologica est, quae Latine inspectiva
                    dicitur, qua supergressi visibilia de divinis et coelestibus
                    aliquid mente solum contemplamur. Nam et in has quoque duas
                    partes philosophia vera dividitur, id est, in inspectivam
                    et actualem.  Carolus: Actualis,
                    quae est? Albinus: Actualis
                    est, quae in operationibus huic vitae
                    mortali necessariis consistit. Per hanc igitur modus 
                    honestus vivendi appetitur et instituta ad virtutes
                    tendentia exercentur; per illam vero Deus amatur, spe et
                    fide colitur. Carolus: Quis est, qui philosophiae detrahere
                    audeat? Albinus: Nullus sapiens. Carolus: Vere
                    nullus sapiens. Sed pergamus ad dialecticae artis
                    inquisitionem. Et primum dic, quid sit dialectica? Albinus:
                    Dialectica est disciplina rationalis
                    quaerendi, diffiniendi et disserendi, etiam et vera a
                    falsis discernendi potens. Carolus: Unde dicta est
                    dialectica? Albinus: Dicta est dialectica, quia in ea
                    de dictis disputatur. Nam "lecton"
                    dictio dicitur. Carolus: Quid est inter dialecticam
                    et rhetoricam? Albinus: Dialectica et rhetorica est,
                    quod in manu hominis pugnus astrictus et
                    palma distenta. Illa brevi oratione
                    argumenta concludit,  ista per facundiae
                    campos copioso sermone discurrit.
                    Illa verba contrahit,  ista distendit.
                    Dialectica siquidem ad inveniendas
                    res acutior,  rhetorica ad inventas dicendas facundior.
                    Illa raros et studiosos requirit; haec frequenter procedit
                    in turbas. 
                      
                     Übersetzungshilfencondignus = dignus
                  (bei der zweiten Erwähnung in der seltenen Verbindung mit dem
                  Genitiv / indagatio, - onis = Erforschung / sophia (griech.) =
                  die Weisheit / natura (hier Pl.) = hier: Wesen der Dinge /
                  inquisitio, - onis = Substantiv zu inquirere / cognitio =
                  Substantiv zu "cognoscere" / honestas, - atis =
                  Ehrbarkeit, Sittlichkeit, Tugend / saeculum = hier: irdische
                  Welt, Weltleben / ambitio, - onis = Ehrgeiz, Ehr- bzw.
                  Ruhmsucht, Eitelkeit / calcare = mit Füßen treten,
                  unterdrücken / disciplinabilis, e = erlernbar, lehrbar;
                  bei Isidor steht "discipinabili conversatione"
                  (conversatio, - onis = Lebensweise, Lebenswandel  / ratio
                  = hier: Methode; logische (verstandesmäßig nachvollziehbare)
                  Überlegung / eclipsis solis = Verfinsterung der Sonne;
                  Sonnenfinsternis / lunare corpus = (Himmelskörper
                  des) Mondes / obiectus, - us = das Davorschieben / diffinire =
                  definire (näher bestimmen) / Physik, Ethik und Logik bilden
                  bereits nach antiker Auffassung (die v. a. auf Aristoteles
                  zurückgeht) die Teilbereiche der Philosophie / naturalis, ...
                  / os = hier: lingua / expromere = darlegen, äußern / pandere
                  = hier: offenbaren, kundtun / causa quaerendi =
                  Ursachenforschung / Arithmetik, Geometrie, Musik und
                  Astronomie bilden innerhalb der "artes liberales"
                  das "Quadrivium" (siehe Einleitung). Inhaltlich
                  werden diese Gebiete schon bei Aristoteles als Wissenschaften
                  betrachtet, entsprechen bei ihm aber der Mathematik, nicht der
                  Physik / Die vier sog. Kardinaltugenden (sie gehen begrifflich
                  wohl schon auf die Popularethik des 5. vorchr. Jahrhunderts in
                  Griechenland zurück, in die kanonische Form wurden die
                  Begriffe von Plato gebracht /  eloquium divinum = das
                  Wort Gottes / Genesis = die Genesis (das
                  erste Buch des Alten Testaments) / Ecclesiastes = (eigtl.
                  "der Prediger") als Buchtitel: "Kohelet"
                  (atl. Weisheitsschrift) / Proverbia = das (atl.) Buch der
                  "Sprüche" / sparsim = verstreut (hier:
                  vertreut in ...)   / theologica, - ae = theologia
                  (die Theologie); theologicam sibi vindicare = den Begriff
                  Theologie (für sich) in Anspruch nehmen / Cantica Canticorum
                  = das Hohelied (atl. Buch) /  inspectivus, a, um =
                  theoretisch, spekulativ, kontemplativ / actualis, e =
                  praktisch angewendet / operatio, - onis = Arbeit, Handlung /
                  detrahere (mit Dat.) = schmähen, lästern, verleumden / (d. )
                  rationalis differendi = ... in vom Verstand geleiteter Weise
                  Untersuchungen anzustellen / lecton (griech.) = "das
                  Gesagte" / dictio: siehe Text 2 /  pugnus, - i =
                  Faust / astringere (astringo, astrinxi, astrictum) =
                  zusammenziehen, - schnüren; hier: / palma, - ae = (flache)
                  Hand / distendere (distendo, distendi, distentum bzw. - nsum)
                  = ausspannen, ausdehnen, ausstrecken (Der Vergleich geht
                  bereits auf die Stoiker zurück.) / facundia, - ae =
                  Beredsamkeit, Redegabe / copiosus, a, um = ausführlich,
                  wortreich, gedankenreich, beredt / siquidem : wie ein
                  verstärktes "quidem" = denn, freilich  /
                  facundus, a, um = beredt
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             Weiterführende Literatur
            und Links (Auswahl) 
             Lexikon des Mittelalters, Bd. I, Sp. 417 - 420
             Brunhölzl, Franz, Geschichte der lateinischen Literatur des
            Mittelalters, Band I, München 1975, S. 268 - 287
 Gerwing, Manfred, Theologie im Mittelalter. Personen
            und Stationen theologisch - spiritueller Suchbewegungen im
            mittelalterlichen Deutschland, Paderborn - München - Wien - Zürich
            2000, S. 14 - 17
             Wallach, Luitpold, Alcuin and Charlemagne, Studies
            in Carolingian History and Literature (Cornell Studies in classical
            philology 32), Ithaca, New York 1959
             http://www.heiligenlexikon.de/BiographienA/Alkuin.htm
            (Kurzbiographie Alkuins)
             http://www-groups.dcs.st-and.ac.uk/~history/Mathematicians/Alcuin.html(Informationen zu Alkuins Leben und Werk mit weiteren
            Literaturangaben; englisch)
 http://bsbsbb.bsb.lrz-muenchen.de/~db/0000/sbb00000032/images/index.html(Eine der Alkuinbibeln)
 http://www.jadu.de/mittelalter/bildung/alkuin.html(Alkuin und die Schule des MA)
  
             
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