Lateinische Texte zur Mettener Lokalgeschichte

 


Metama Latina

Professor Dr. Franz Brunhölzl (zu Absolvia 1942) Universität Marburg

Die Stellung des Lateins in der Philologie*

Auch die Wissenschaft unterliegt dem Wandel der Dinge, und ein und demselben Gegenstand kommt nicht zu allen Zeiten dieselbe Bedeutung zu. Der Gedanke, das Latein möchte im Bereich der philologischen Disziplinen sich auf einem ähnlichen Rückzug befinden wie in manchen anderen Bereichen des geistigen Lebens drängt sich auf.

Wer an der Schule einige wenige römische Autoren kennengelernt hat und nun überlegt, daß seine Kenntnis zwar nur einen Bruchteil betrifft, daß aber doch der Gegenstand der lateinischen Philologie nicht stetig wächst, sondern ein für allemal in dem durch die Überlieferung gegebenen Umfang vorliegt, der mag sich wohl fragen, ob diese Wissenschaft nicht zu aussichtsloser Sterilität verdammt sei und nichts weiter mehr als längst bekannten Lehrstoff zu bieten habe.

Ein kurzer Rückblick soll die gegenwärtige Situation verdeutlichen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Lateinischen war lange Zeit allein der Klassischen Philologie vorbehalten, der ältesten aller philologischen Wissenschaften. Diese hatte sich im Laufe des vorigen Jahrhunderts zur umfassenden Altertumswissenschaft entwickelt.

Neben der intensiven Pflege der eigentlich philologischen Aufgaben, wie Textkritik, sprachlicher Durchdringung, Interpretation, Literaturgeschichte, ging eine starke enzyklopädische Richtung einher, die Realien wurden weithin aufgearbeitet. Man suchte das Altertum in seiner ganzen Mannigfaltigkeit nach allen Richtungen hin zu erfassen. Mehr und mehr zeigten sich nun die Denkmäler in ihrer historischen Bedingtheit, und die Antike verlor viel vom Glanz des Klassischen. Dem rückschauenden Blick erscheint es wie eine neuerliche Wende, was tatsächlich nur die notwendige Folge der doch recht positivistischen Betrachtungsweise war: die Fülle der Tatsachen und Beziehungen, die der bewundernswerte Gelehrtenfleiß des vorigen Jahrhunderts erarbeitet hatte, verlangte ein neues Durchdenken. So kehrte, nachdem sich Alte Geschichte und Archäologie als selbständige Disziplinen mit eigenen Zielsetzungen im Rahmen der Altertumswissenschaft herausgebildet hatten, die Klassische Philologie etwa seit dem Ersten Weltkrieg wieder mehr zu der ureigenen Aufgabe allen philologischen Strebens zurück: zur Interpretation. Wie eh und je stehen in ihrem Dienst das Bemühen um immer mehr verbesserte Textausgaben, um vertieftes Verständnis von Sprachgebung und Stil des einzelnen, um das Erkennen literarischer Formen und ihrer Funktion. Man darf im Bereich einer Wissenschaft, deren Stoff abgeschlossen und im wesentlichen erforscht vorliegt, keine großen Entdeckungen erwarten. Wäre der Gegenstand der Klassischen Philologie nur ein Objekt der gelehrten Forschung, sie stünde nah vor ihrem Ende. Aber Europa ist ohne das Erbe der Antike nicht zu verstehen. So gilt es denn für jede Generation das ihr gemäße Bild der Alten Welt zu zeichnen, den Zugang zu den Wurzeln der geistigen Kultur Europas stets von neuem zu erschließen. Die Klassische Philologie ist wiederum zu einer Bildungswissenschaft geworden. Das ist und bleibt ihre schönste Aufgabe - heute mehr denn je.

Das letztere wird womöglich noch deutlicher an der relativ jungen lateinischen Philologie des Mittelalters, die erst zu Anfang unseres Jahrhunderts aus der Klassischen Philologie herausgewachsen und zu einer selbständigen Disziplin mit eigenen Aufgaben geworden ist. Ihren Gegenstand bildet die lateinische Kultur der abendländischen Welt in dem runden Jahrtausend vom Ausgang des Altertums bis in die Zeit des Humanismus. Das Lateinische hatte in jener Epoche eine besondere Bedeutung: In den ehemaligen Provinzen des römischen Reiches lebte und entwickelte sich das gesprochene Latein des Altertums, das sog. Vulgärlatein, auch nach dem Zusammenbruch der Alten Welt weiter. Zugleich aber hielt die Schule und vor allem die Kirche, die das Latein schon früh zu ihrer Sprache gemacht hatte, die Tradition der Schriftsprache des späten Altertums, des sog. Spätlateins, fest. Bis etwa zur Karolingerzeit hatte sich das Vulgärlatein so stark differenziert und so weit von der literarischen Sprache entfernt, daß diese nur noch für Gebildete verständlich war: die romanischen Sprachen waren entstanden. Mit der Christianisierung aber wurde das Latein der Bibel, der Kirche, das Schriftlatein auch in die Länder und zu den Völkern vorgetragen, die niemals zum römischen Reich gehört hatten: Iren und Angelsachsen und dann auch die nachmals deutschen Stämme rechts des Rheins wurden in die lateinische Kulturwelt einbezogen. Die lateinische Sprache wurde zur gemeinsamen Sprache aller Gebildeten der abendländischen Christenheit. Durch die Kenntnis des Lateinischen wurde der romanisch-germanischen Völkergemeinschaft erst der Weg zu einem höheren geistigen Leben ermöglicht. Wer Lesen und Schreiben lernte, lernte die lateinische Schrift, las lateinische Texte; durch Glossierung und Übersetzung lateinischer Werke bildeten sich die Sprachen von Bauern und Kriegern allmählich zur Literaturfähigkeit. Die ältesten literarischen Schöpfungen der europäischen Völker sind fast alle lateinisch. Bis ins 12. Jahrhundert herrschte das lateinische Bildungswesen fast unumschränkt. Auch als nach dem 13. Jahrhundert das Latein durch die zur vollerer Blüte erwachsenen Volkssprachen aus manchen Bereichen der Literatur zurückgedrängt wurde, blieb die lateinische Literatur doch immer präsent, die im Zeitalter der Universitäten zu schier unübersehbarer Fülle anwuchs und die gesamte schriftliche Produktion in den Volkssprachen bis zum Ausgang des Mittelalters um ein Vielfaches übertraf. Neben der Kirche bildete die lateinische Bildung und Literatur das stärkste einigende Band in jener Epoche, da die Einheit des Reiches zu zerbrechen begann und die Nationalstaaten sich entwickelten. Das Latein ist so recht eigentlich d i e Sprache Europas, die Grundlage dessen, was die europäische Kultur ausmacht.

So hat denn jede historisch-philologische Disziplin, die sich mit dem abendländischen Mittelalter in irgendeiner Weise befaßt, mit dem Latein zu tun: ältere Germanistik so gut wie Anglistik oder Romanistik, die Allgemeine Sprachwissenschaft, die Kunstgeschichte und Musikgeschichte, die allgemeine Geschichte wie Geschichte nahezu aller Wissenschaftszweige.

Man darf trotz dieser evidenten Bedeutung des Lateins nicht ererwarten, daß Klassische Philologie oder lateinische Philologie des Mittelalters in absehbarer Zeit ein Modefach werden und viele anlocken würden. Wer sich ihr verschreibt, trifft eine Entscheidung; eine Entscheidung für die europäische Kultur und ihre Grundlagen, nicht um in Vertrocknung und resignierendem Nachtrauern über eine vergangene Epoche zu erstarren, sondern um offenen Auges und bewußt die geistigen Werte einer Welt, die die unsere gewesen ist, zu wahren für eine neue Zeit.

 

Latein, der Schlüssel für moderne Sprachen

"Laßt den jungen Mann erst einmal Latein lernen!", diesen Rat gab der Präsident des Bundes der Dolmetscher und Übersetzer in einem Referat über die Ausbildung in diesem Berufsstand. Die angeblich tote Sprache der alten Römer hat also auch da ihren Wert behalten, wo mit den modernsten Mitteln gearbeitet wird. Die gleichen Erfahrungen habe ich mit Schülern des Gymnasiums in Deggendorf, der früheren Oberrealschule, gemacht. Zwei von ihnen, denen ich Nachhilfeunterricht in Englisch und Französisch erteilte, waren ohne Latein und es war mir, als würden sich diese Buben bezüglich der Beherrschung des Wortschatzes und der Handhabung der Grammatik auf schwankendem Boden befinden. Die verzwickte englische Orthographie macht dem Lateiner keine Schwierigkeiten, soweit es sich um romanische Wörter handelt, während der lateinlose Schüler auf diesem Gebiet immer wieder in die gröbsten Fehler verfällt. Latein ist also die Grundlage für die romanischen Sprachen, außer Französisch auch für »Spanisch, Italienisch, Portugiesisch und Rumänisch, zum großen Teil auch für Englisch.

Die neuen Unterrichtswerke suchen darüber hinaus auch zwischen Latein und den slawischen Sprachen eine Brücke herzustellen. Als Beispiele seien angeführt: "Sowjet", eines der bekanntesten russischen Wörter. Es geht zurück - auf die indogermanische Wurzel "ved" = sprechen, die altindischen "Veden", lateinisch vates: der Sprecher, der Seher, vaticinari: sprechen, weissagen. Das russische "so" ist Präposition und entspricht dem lateinischen "cum" und dem griechischen s??; altlateinisch "com", ist nur lautlich abgewandelt und bedeutet "mit". So-wjet also: zusammen sprechen, miteinander sprechen, beraten, als Hauptwort: der Rat. - Der "Sputnik" war einst in aller Munde; hier haben wir wieder die Präposition "so" mit, nur ist in diesem Fall der Vokal "o" vor dem p-Laut ausgefallen. In putnik steckt der Stamm "put", lateinisch pons, pontis die Brücke, allgemein der Weg, weil bei den schlechten Bodenverhältnissen der Urzeit Weg und Brücke ein und dasselbe waren. Putnik ist der auf dem Wege geht, der Reisende und s-putnik der Mitreisende, der Satellit, der mit der Erde durch das All reist.

Die Einführung in den Wortschatz der indogermanischen Sprachen im allgemeinen und der romanischen im besonderen ist aber nur die eine, die formale Seite des Wertes des Lateinischen. Diese, von den ebenso nüchternen wie scharfsinnigen alten Römern geschaffene Sprache führt zum höchsten Ziel hin, den der Sprachunterricht hat: nämlich dem Schüler in grundsätzlicher Weise begreiflich zu machen, was Sprache ihrem Wesen nach und in ihrem Aufbau überhaupt ist. Die lebenden Sprachen sind ständig in Fluß und Bewegung, die Bedeutung der Wörter wandelt sich, Latein hingegen ist in sich abgeschlossen, an ihm können die sprachlichen Erscheinungen wie an einem Modell gezeigt und studiert werden.

Die gründliche Erlernung dieser Sprache ist also auch vom Standpunkt des modernen Sprachstudiums aus durchaus kein überflüssiger Luxus.

* Josef Müller-Salegg (20)

 

 

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