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Mathematik, Naturwissenschaften

Gauss


Göttingen, um 1850 Sartorius 1856, S. 12—13

Sartorius berichtet nach Erzählungen von Gauß:

Gauß besuchte zuerst 1784, nachdem er sein siebentes Lebensjahr zurückgelegt, die Katharinen-Volksschule, in welcher der erste Elementarunterricht erteilt wurde und die damals unter der Leitung eines gewissen Büttner1 gestanden hat. [...] In dieser Schule, die noch sehr den Zuschnitt des Mittelalters gehabt zu haben scheint, blieb der junge Gauß zwei Jahre lang, ohne durch etwas außerordentliches aufzufallen. Erst nach jener Zeit brachte es der Gang des Unterrichts mit sich, daß er auch in die Rechenklasse eintrat, in welcher die meisten bis zu ihrer Konfirmation, bis etwa zu ihrem 15.Jahre blieben. Es ereignete sich hier ein Umstand, den wir nicht ganz unbeachtet lassen dürfen, [...] und den er uns in seinem hohen Alter mit großer Freude und Lebhaftigkeit öfter erzählt hat. Das Herkommen brachte es nämlich mit sich, daß der Schüler, welcher zuerst sein Rechenexempel beendigt hatte, die Tafel2 in die Mitte eines großen Tisches legte; über diese legte der zweite seine Tafel usw. Der junge Gauß war kaum in die Rechenklasse eingetreten, als Büttner die Summation einer arithmetischen Reihe aufgab.3 Die Aufgabe war indes kaum ausgesprochen, als Gauß die Tafel mit den im niederen Braunschweiger Dialekt gesprochenen Worten auf den Tisch wirft: »Ligget se!« (Da liegt sie.) Während die anderen Schüler emsig weiter rechnen, multiplizieren und addieren, geht Büttner sich seiner Würde bewußt auf und ab, indem er nur von Zeit zu Zeit einen mitleidigen und sarkastischen Blick auf den kleinsten der Schüler wirft, der längst seine Aufgabe beendigt hatte. Dieser saß dagegen ruhig, schon ebenso sehr von dem festen unerschütterlichen Bewußtsein durchdrungen, welches ihn bis zum Ende seiner Tage bei jeder vollendeten Arbeit erfüllte, daß seine Aufgabe richtig gelöst sei und daß das Resultat kein anderes sein könne. Am Ende der Stunde wurden darauf die Rechentafeln umgekehrt; die von Gauß mit einer einzigen Zahl lag oben, und als Büttner das Exempel prüft, wurde das seinige zum Staunen aller Anwesenden als richtig befunden, während viele der übrigen falsch waren und alsbald mit der Karwatsche rektifiziert4 wurden. Büttner glaubte nun, ein gutes Werk zu tun, eigens aus Hamburg ein neues Rechenbuch zu verschreiben, um damit den jungen bahnbrechenden Geist nach Kräften zu unterstützen; er soll aber einsichtsvoll genug gewesen sein, bald zu erklären, daß Gauß in seiner Schule nichts mehr lernen könne.


l  J. G. Büttner; weitere biographische Daten sind nicht bekannt.

2 Die Schüler schrieben zuerst nicht in Hefte, sondern auf kleine abwischbare Tafeln.

3 Die Aufgabe soll darin bestanden haben, die Zahlen von 1 bis 100 zusammenzuzählen, also 1+2+3+...+99+ 100. Gauß erkannte, daß 1 +100 = 101, 2 + 99 = 101, 3 + 98 = 101 usw. und daß es 50 solche Additionen gibt, also nur die von ihm im Kopf durchgeführte Multiplikation 101 • 50 = 5050 vorzunehmen ist. Er hatte also im Alter von neun Jahren die Summenformel der arithmetischen Reihe selbständig gefunden.

4 Unter Prügel berichtigt.

Zitiert nach: Carl Friedrich Gauß. Der „Fürst der Mathematiker“ im Briefen und Gesprächen. Hrsg. von Kurt-R. Biermann. München 1990, S. 36 f.


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