Pseudo- Boethius



 Studierende zu Füßen eines Lehrenden am Katheter. Aus: Bible historiale, 15. Jh., Paris Bibliothèque Mazarine 

 

Person und Leben  Texte 

 

Person und Leben

Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts wurde als Autor der nun folgenden Texte der spätantike Autor Boethius gesehen. Humanisten entlarvten – hauptsächlich aufgrund seines Stiles – den Text als unecht. Für den pseudepigraphischen Charakter des Werkes sprechen einige weitere Argumente: Vor dem 13. Jahrhundert (ca. 1240) wurde das Werk nirgendwo erwähnt und existierte auch keine Handschrift. Das Vorwort, in dem Boethius sich als Autor vorstellt, zeigt nur magere Kenntnisse der Chronologie der Werke des spätantiken Boethius. Die Art und Weise, wie der Autor über universitäre Einrichtungen  in Paris spricht, weist deutlich darauf hin, dass das Werk nicht in der Spätantike entstanden sein kann.

Über den Ort der Entstehung des Werkes existieren zwei Hypothesen: Vorgeschlagen wird einerseits Oxford, wofür der rasche Erfolg des Buches in England spreche, der eine Entstehung in einem weiter entfernten Land unwahrscheinlich mache. Außerdem weise das Lob der Dialektik auf Oxford hin, da sie dort einen höheren Rang einnahm als in Paris.  Für einen Franzosen als Verfasser - mit dem Hintergrund der Universität Paris - werden wiederum sprachliche Argumente vorgebracht. Doch  dies kann ebenfalls nicht als sicher gelten, da auch ein Nichtfranzose, der an der Universität Paris studierte, in einem Latein geschrieben haben könnte, das vom Französischen beeinflusst war.

Der Autor spricht in seinem Werk einige wenige Male von sich selbst. Es ist aber nicht zu entscheiden, ob er dabei seine Rolle als (spätantiker) Boethius beibehält oder sie einen Augenblick lang vergisst. So kann z. B. eine Passage, in der er davon erzählt, dass er nach Frankreich ging und an der Universität von Paris viele ausländische Studenten antraf, den antiken Boethius bei einem Frankreichaufenthalt vorgeben oder wirklich autobiographisch gemeint sein. Da er interessanterweise  als ausländische Studenten an der Universität Engländer, Deutsche, Spanier und nicht weiter charakterisierte „nostri“ nennt, könnte er (falls es sich um eine autobiographische Notiz handelt) auch weder Franzose noch Engländer, Deutscher oder Spanier sein – möglicherweise war er Flame, Däne oder Osteuropäer. Zu bedenken ist, dass „Boecius“ in Dänemark ein häufiger Name war. Letzlich aber bleibt die Frage nach der Identität offen.

Die Universität Paris als Entstehungsort wird von der Forschung präferiert. Die Herausgeberin der Werkausgabe - Olga Weijers - bezeichnet dies als nicht unvernünftig, obwohl man in einer Zeit, in der das westliche Europa eine kulturelle und geistige Einheit darstellte, keine deutlichen Unterschiede zwischen England und Frankreich machen könne. Auf alle Fälle sei festzustellen, dass die Universität Paris zu der Zeit, in der das Werk geschrieben sein muß (also bis ca. 1240), eher den geschilderten Zuständen entsprochen habe als die Universität Oxford. 

Pseudo - Boece, De Disciplina Scolarium, edition critique par Olga Weijers (=Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, hg. von Albert Zimmermann, Bd. XII), Leiden - Köln 1976 

Für die Hilfe bei der Erarbeitung dieses Textabschnittes bedanken wir uns bei Frau OStRin Hemma Neumann.




Texte 

aus dem Werk "De disciplina scholarium"

 

 

Text 1: Vom Gehorsam

(Cap. 2, 1)

Visis scholarium rudimentis et virtutum incrementis nunc de eorum subiectione erga magistratus breviter est ordinandum, quoniam qui non novit se subici, non noscet se magistrari. Miserum autem est eum magistrum fieri, qui numquam novit se discipulum esse. Debet autem discipuli subiectio in tribus consistere: in attentione, benevolentia et docilitate. Docilis ingenio, attentus exercitio, benivolus animo. Attentus, inquam, ad audiendum, docilis ad intellegendum, benivolus ad retinendum. Ista vero tria ad perfectionem currunt permutatim.

 

Übersetzungshilfen 

scholaris, - is = Schüler, Student / rudimentum, - i (meist Pl. ) = erster Anfang, Elementarunterricht - rudimenta scholarium = hier (freier): die Grundlagen des Unterrichts (für die Schüler / Studenten); gemeint sind die Fächer des Triviums, v. a. die Grammatik / incrementum, - i = Wachsen, Zunahme / subiectio, - onis: Tätigkeitssubstantiv zu subicere / magistratus = hier: magister / ordinare = hier: darstellen / magistrare = belehren; Magister werden; aufgrund des folgenden Satzes scheint es nicht abwegig, "magistrari" ebenfalls als "Magister werden" aufzufassen / attentio, - onis = Aufmerksamkeit; attentus, a, um : diesbezügl. Adjektiv / benevolentia = hier: Freundlichkeit / docilitas, - atis = Lehrbarkeit, Gelehrigkeit; docilis, e: diesbezügl. Adjektiv / permutatim = in Wechselbeziehung 


 

Text 2: Der Respekt vor dem Professor

(Cap. 4, 6-7)

Felicis discipuli discretio magistratu gaudeat eumque metuendo diligat fidelisque existat, ne sub picturatae dilectionis obtentu Albinus existat detrahendo.... Venienti autem assurgat, pro loco et tempore salutando inclinet eumque, si iubeat, assequatur mansionique eius, si potest, se inserat cohabitando, ut sic castigatus non solum se remordeat, verum etiam, cum locus fuerit, ad eum confluat inquirendo. Si autem discipulus specialiter magistro suo, ut necessarium est, nequeat exhibere praesentiam, tum propter mansionis distantiam, tum propter alterius rei causam, dipticas semper lateri promptiores habeat cedulamve, quibus diligenter imprimat, quod conscientiae suae senserit intimatum eiusque explicite inquirat dubitatum.

 

Übersetzungshilfen 

felix = hier: erfolgreich, erfreulich / discretio, - onis = Unterscheidungsvermögen / magistratus: wie oben / picturatus, a, um =  wörtl. bestickt; übertr. geheuchelt / obtentus, - us = Vorwand, Deckmantel, Hülle, Beschönigung / ergänze sinngemäß: beim ... / as - surgere: aus den Wortbestandteilen zu erschließen / salutando: Ergänzung wie bei "detrahendo" / inclinare = intr. sich (ver)neigen / mansio, - onis (spätlat.; vgl. engl. "mansion") = Wohnung / in - serere = aus seinen Wortbestandteilen zu erschließen; ebenso co - habitare / remordere = wörtl. "wieder beißen"; hier wohl zusammen mit "se" sinngemäß "sich zusammennehmen" / con - fluere: aus den Wortbestandteilen zu erschließen / ergänze wieder "beim"; freier: wie "inquirendi causa" zu üs / exhibere = zeigen, erkennen lassen / diptica, - ae = diptychum, - i = Schreibtafel, Verzeichnis / promptus = hier: bereit / cedula, - ae: möglicherweise sc(h)edula = Blättchen, Zettel / intimatum = intimum (Subst. !) / eius dubitatum: das, worüber er diesbezüglich in Zweifel ist

 

Sacherklärungen

Aus dem Text wird eine Besonderheit des mittelalterlichen Schulbetriebes deutlich: Das Zusammenleben von Lehrern und Schülern in der sog. "Burse" ("mansio"), die es jedenfalls im Paris der damaligen Zeit schon gab. Dieses gemeinsame Wohnen war typisch für die Zeit des Elementarunterrichtes in den "artes", d. h. mit den Lehrern wohnten v. a. die jüngeren Schüler zusammen, die ca. vierzehn bis siebzehn Jahre alt waren. Studierte man das eigentliche Studienfach (Theologie), gab es diese Einrichtung nicht mehr.

Das gemeinsame Wohnen basierte v. a. auf dem Ideal, moralische Formung und intellektuelle Bildung sollten miteinander verflochten sein. Der Lehrer sollte über die jüngeren Schüler und ihr Verhalten wachen, andererseits sollten sie jederzeit die Gelegenheit haben, bei Unklarheiten im Lehrstoff Fragen zu stellen.