Johannes von Salisbury



Darstellung der "Artes Liberales" am Schönen Brunnen in Nürnberg - Aristoteles als Repräsentant der Dialektik

 

Leben und Werk  Bilder von den Lebensstationen Text  Zusätzliche Literatur und Links

 

Leben und Werk :

* ca. 1115/20 in Old Sarum bei Salisbury/ +1180

Johannes von Salisbury gilt als ein Mann von ungewöhnlich großem Wissen, dem es gelang, die gesamte Bildung seiner Zeit auf sich zu vereinigen. Er verließ England 1136 und studierte bis 1147 bei verschiedenen Lehrern, darunter Abaelard, in Paris, zwischenzeitlich möglicherweise auch in Chartres, die artes liberales und die christlichen Wissenschaften. Da er selbst nicht über größere Mittel verfügte, unterrichtete  er zeitweise selbst die Söhne von Vornehmen. 1147 wurde er zum Priester geweiht. Seit 1148 war er für den Erzbischof Theobald von Canterbury tätig, an den er wegen seiner umfassenden Bildung empfohlen worden war. Als dessen Abgesandter hielt er sich bis 1153 mehrfach an der päpstlichen Kurie auf. Nachdem er 1154 dessen Privatsekretär geworden war, zählte er zu Theobalds engsten Vertrauten und Ratgebern, später auch zu denen seines Nachfolgers Thomas Becket . Im Streit zwischen König und Kirche versuchte er, mäßigend auf Becket einzuwirken, fiel jedoch trotzdem bei König  Heinrich II. in Ungade und ging wie Becket ins Exil nach Frankreich. 1170 gelang ihm die Rückkehr nach Canterbury. Im selben Jahr wurde Becket mit Wissen des Königs im Beisein Johanns ermordet, eine Tat, die ihn wohl sehr berührte. Er hinterließ über den Vorgesetzten und Freund  eine Vita im Legendenstil ein und wirkte wohl auch an seiner Heiligsprechung mit.1174 wurde er Schatzmeister von Exeter. 1176 erhielt er das Bistum  Chartres und bekleidete das Bischofsamt bis zu seinem Tod.

In seine Werke floss seine reiche Kenntnis der klassischen und der zeitgenössischen Literatur ein. Zwischen 1155 und 1157  entstand sein  in Distichen gehaltenes Gedicht "Entheticus", das vom Lehrgebäude der Philosophie und der Notwendigkeit der Bildung in den Fächern des Triviums und der antiken Philosophie handelt. Doch ist dies nicht der einzige Zweck; es sollte - an Becket im Exil gesandt - diesem auch Rat und Warnung zukommen lassen und kritisierte die Schäden, die der Staat unter König Stephan und auch schon Heinrich II. genommen habe.  Mit seinem ebenfalls Becket gewidmeten Werk "Metalogicon" (oder "Metalogicus") aus dem Jahr 1159, das einen kritischen Einblick in den Studien- und Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit darstellt, wollte Johann die klassische Bildung methodisch strukturieren. Im Mittelpunkt stehen Grammatik, Dialektik und Logik. Er selbst bezeichnet dieses Werk als "Schutz- und Streitschrift für die Logik". Äußerer Anlass dafür war die Tatsache, dass in Johanns Umgebung ein von ihm namentlich nicht genannter Mann lebte (er selbst gibt ihm das Pseudonym "Cornificius"), der ein Gegner jeder wissenschaftlichen Richtung war. Im Hinblick auf die Geschichte der Wissenschaft ist das Werk von großer Bedeutung, da Johann in ihm als erster die Schriften des aristotelischen Organon  nicht nur anführt, sondern auch verwertet. Damit bereitet er auch  vor auf die große Aristoteles - Renaissance im 13. Jhdt.  Sein bekanntestes Werk ist der "Policraticus", den er von 1156 - 1159 verfasste. Dieser stellt eine moralisierende, zeitkritische Staats- und Gesellschaftslehre dar. Wieder Thomas Becket gewidmet soll er diesen auf seine geistlichen Pflichten als Reichskanzler aufmerksam machen. Das Werk zerfällt in die beiden Hauptteile "De nugis curialium" und "De vestigiis philosophorum". Im ersten Teil kritisiert Johann  die Unsitten, die sich am Hof breitmachten und zeigt die eigentlichen Pflichten der Vertreter des Staates auf. Mit dem zweiten Teil möchte er eine Anleitung zur Tugend und zur wahren Glückseligkeit bieten. Es behandelt verschiedene antike philosophische Ansätze, will aber stets die philosophischen Lehren mit den Einsichten des Christentums verbinden. Das vorwiegend ethische Werk schließt mit einer Ermahnung an Thomas Becket, sich selbst inmitten aller Verlockungen des Hoflebens treu zu bleiben. Als Fürstenspiegel behielt der Policraticus bis ins 17. Jhdt. hinein Bedeutung. Die Briefe Johanns sind z. T. von amtlichem Charakter, zum Teil persönlicher gefärbt und richten sich an viele Kirchenfürsten in England und Frankreich, z. T. auch an den päpstlichen Hof. Unter ihnen finden sich die Hauptdokumente für die letzte Zeit Beckets und seine Ermordung, sind also insgesamt zeitgeschichtlich sehr aufschlussreich. 

 

Organon: zusammenfassender Titel der byzantinischen Gelehrten für die logischen Schriften  des Aristoteles



 

Bilder von den Lebensstationen des Autors


Text 

( Metalogicon 2,10 )


Im folgenden Text - der zu den "klassischen Abschnitten europäischer Bildungsgeschichte" (Guth, s. u., S. 39 ) zählt - und dessen Fortsetzung schildert Johannes v. Salisbury die  Eindrücke, die er als Student in Paris von seinen ersten  Lehrern gewonnen hatte. Sein Studiengang gilt als beispielhaft für den zeitgenössischen Schulbetrieb  in den größeren Städten. 

Cum primum adulescens admodum studiorum causa migrassem in Gallias, anno altero postquam illustris rex Anglorum Henricus,  leo iustitiae,  rebus excessit humanis, contuli me ad Peripateticum Palatinum, qui tunc in Monte Sanctae Genouefae, clarus doctor et admirabilis omnibus, praesidebat. Ibi ad pedes eius prima artis huius rudimenta accepi et pro modulo ingenioli mei , quicquid excidebat ab ore eius,  tota mentis auiditate excipiebam. Deinde post discessum eius, qui mihi praeproperus uisus est, adhaesi magistro Alberico, qui inter ceteros opinatissimus dialectius enitebat, et erat reuera nominalis sectae acerrimus impugnator. Sic ferme toto biennio conversatus in Monte artis  huius praeceptoribus usus sum Alberico et magistro Roberto Meludensi ( ut cognomine designetur, quod meruit in scholarum regimine, natione siquidem Angligena est ); quorum alter ad omnia scrupulosus locum quaestionis inueniebat ubique, ut quamuis polita planities offendiculo non careret et, ut aiunt, ei scirpus non esset enodis. Nam et ibi monstrabat, quod oportebat enodari. Alter autem in responsione promptissimus subterfugii causa propositum numquam declinavit articulum, quin alteram contradictionis partem eligeret aut, determinata multiplicitate sermonis, doceret unam non esse responsionem. Ille ergo in quaestionibus subtilis et multus, iste in responsis perspicax, brevis et commodus. Quae duo si pariter eis alicui omnium contigissent, parem utique disputatorem nostra aetate non esset invenire. Ambo enim acuti erant ingenii et studii pervicacis et (ut reor) magni praeclarique viri in philosophicis studiis enituissent, si de magno litterarum fundamento, si tantum institissent vestigiis maiorum, quantum suis applaudebant inventis. Haec pro tempore, quo illis adhaesi. Nam postea unus eorum profecto Bononiam dedidicit, quod docuerat. Siquidem et reversus dedocuit. An melius, iudicent, qui eum ante et postea audierunt. Porro alter in divinis proficiens litteris, etiam eminentioris philosophiae et celebrioris nominis assecutus est gloriam. 

Übersetzungshilfen 

admodum: zu beziehen auf "adulescens" / Gallias: Ins Deutsche mit Singular zu übersetzen / alter = hier: secundus / der englische König Heinrich I. (1110 - 1. 12. 1135); 1137 kam Johann wohl nach Frankreich / rebus humanis excedere = sterben (wörtl. ?) / Gemeint ist Abaelard; J. nennt ihn "Peripateticus" wegen seiner Lehre in der Tradition des Aristoteles, "Palatinus" nach seinem Heimatort Le Pallet / Der Hügel der Hl. Genovefa (südl. Vorstadt von Paris) war der Schulort Abaelards / prae - sidere: aus den Wortbestandteilen zu erschließen / rudimentum, i = (erster) Anfang ; inhaltlich sind Dialektik bzw. Logik gemeint / modulus bzw. ingeniolum: als Bescheidenstopoi zu übersetzen / ex - cidere: aus den Wortbestandteilen zu erschließen / aviditas, atis: Substantiv zu "avidus" / discessus: hier im örtl. Sinn gebraucht! / prae - properus, a, um = zu schnell, übereilt / ad - haerere: aus den Wortbestandteilen zu erschließen / Albericus = Alberich (siehe inhaltliche Erläuterungen) / opinatus, a, um = berühmt, hohe Wertschätzung genießend  / dialecticus = der Dialektiker / revera (siehe Wortbestandteile) = in der Tat, wirklich / nominalis secta = Sekte der Nominalisten (siehe inhaltliche Erläuterungen) / impugnator, - oris = Bekämpfer / ferme = fere / conversatus = versatus / Robertus Meludensis = Robert von Melun (siehe inhaltl. Erl.) / regimen, - inis : Tätigkeitssubstantiv zu "regere" / siquidem = verstärktes quidem / Angligena, - ae = von Geburt Engländer / scrupulosus, a, um = skrupulös, ängstlich / ad = hier: in, in Bezug auf / locus = hier: Gelegenheit / quaestio: wörtl. zu übersetzen, nicht im Sinne der Gattung der "Quästio" / Stelle: ut planities - quamvis polita - ...; planities, iei = ebene Fläche;  polire = glätten, polieren / offendiculum, - i = Anstoß, Hindernis / scirpus, i = Binse / enodis, e = knotenlos, glatt (Abwandlung des Sprichwortes; "nodum in scirpo quaerere" / enodare = entknoten, entwirren, erklären / promptus = hier: schlagfertig, gewandt / subterfugium, - ii = Flucht, Ausflucht / declinare = hier: umbiegen / articulus = hier: Thema, These / quin = hier: ohne dass / alteram ... eligere = den anderen Teil für die contradictio (= den Widerspruch) wählen / multus = hier: vielseitig / perspicax, - cis = hier: scharfsinnig / pariter eis = in gleichem Maße wie (bei) ihnen / e - nitere = nitere / pervicax, cis = beharrlich, unermüdlich / unus: gemeint ist Alberich / Bononia, - ae = Bologna / dediscere = verlernen, vergessen / dedocere = jd. eines Besseren belehren, jmd. etwas abgewöhnen, vergessen lassen; übersetzt wird hier allerdings auch: den Lehrbetrieb wieder aufnehmen (was die Lesart "re-docuit" voraussetzen würde) / divinae litterae = Theologie / eminens, ntis = herausragend, bedeutend 

Sacherklärungen und Interpretationshilfen 

Als Johannes von Salisbury nach Paris kam, unterrichtete der berühmte und umstrittene Philosoph Abaelard offensichtlich gerade die Anfangsgründe der Dialektik. Das mag der Grund dafür gewesen sein, dass Johann die übliche Studienreihenfolge Grammatik - Rhetorik - Dialektik umkehrte. Erst später studierte er die Grammatik, ob in Chartres oder Paris, ist umstritten. 

Während noch im 11. Jahrhundert der Ruf einer Schule vorwiegend vom Erfolg eines einzigen Lehrers abhing, standen in Bologna oder Paris zur Zeit Johanns bereits zehn bis zwölf Lehrer den Studenten zur Verfügung. 

So wechselte er nach Abaelards Weggang auch zu anderen Lehrern, Alberich de Monte, der vielleicht identisch war mit dem damaligen Kanzler von St. Genevieve und später Archidiakon von Reims, und Robert von Melun. Alberich war als Realist Gegner der Nominalisten. Beide Lehrer verfügten offensichtlich über unterschiedliche Qualitäten. Alberich, den Johann als fast zu skrupulös schildert, war offensichtlich sehr vielseitig im Aufspüren von Fragen, Robert war offensichtlich kurz und präzise in den Antworten und gab die Möglichkeit mehrerer Lösungen auf eine Frage offen zu. 

Dass beide später andere Fächer wählten - Alberich ging später zum Spezialstudium des Kirchenrechts nach Bologna, Robert wandte sich der spekulativen Theologie zu - zeigt die damalige Mobilität des Professors und auch, dass die Lehre in der Dialektik offensichtlich das Sprungbrett für bedeutendere Aufgaben bilden konnte. Alle großen Lehrer der Frühscholastik unterrichteten im übrigen in den artes liberales und der Theologie - ein Unterschied zur heutigen Trennung von Fächern -, galt doch auch die Dialektik als Voraussetzung für das Betreiben der wissenschaftlichen Theologie.

 


Weiterführende Literatur und Links 

Lexikon des Mittelalters V, Sp. 109 - 111 

Manitius, Max, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. III (= Handbuch der Altertumswissenschaft, 9.
Abteilung ), München 1931,  S. 253 - 264

Guth, Klaus, Johannes von Salisbury. Studien zur Kirchen-, Kultur- und Sozialgeschichte Westeuropas (=Münchner theologisches Studien I / 20 ), St. Ottilien 1978